Dieses Jahr war das anders. Ich vermisse dich.
Ich verbrachte mehr Zeit auf dieser Welt OHNE dich als MIT dir. Als du vor fast 30 Jahren gestorben bist, war ich erst ein Teenager.
Zum Zeitpunkt deines Todes war ich in diesem schrecklichen Mädcheninternat in der welschen Schweiz in welches du und mein bald-dritter-Stiefvater mich gesteckt hattet um “anständig Französisch zu lernen.“ Dein damaliger Verlobter schien zu glauben, ich sei der Ursprung deiner Depression und deines Alkoholproblems, also war er erpicht darauf, mich wegzuschicken.
Und obwohl ich den streng konservativen—ach, nennen wir es doch beim Namen: rückständigen!—Internatsbetrieb verachtete, war ich glücklich, endlich von zu Hause weg zu sein. Weg von dir zu sein. Ich fühlte mich zum ersten Mal sicher.
I erinnere mich genau an jenen Morgen, als ich aus der Grammatikstunde ins Büro des „Monsieur le directeur“ gerufen wurde. Mein Herz fing an zu rasen und ich dachte: “Was habe ich falsch gemacht? Hoffentlich ist es nichts Schlimmes.“
Ich hatte Angst.
Alles was ich wollte waren ganz viele gute Noten um dich—einmal in meinem Leben— stolz zu machen.
Alles was ich wollte war—einmal in meinem Leben—zu hören, dass ich gut genug war für dich.
Da sass er, dein Typ, direkt gegenüber vom Herrn Direktor. Und ich wusste, dass etwas furchtbar schief gelaufen sein musste. Alles, was dein Typ sagte war: “Deine Mutter ist tot.“
Seine Augen sagten noch etwas ganz anderes. “Das ist alles dein Fehler, du verdammte Göre.“
In dieser Sekunde passierten eine Million verschiedene Gefühle aufs Mal.
Das allererste war unermessliche Erleichterung. Es fühlte sich an, als ob ein gigantischer Felsbrocken von meiner Schulter gehoben würde. Der Erleichterung direkt auf den Fersen war ein lähmendes Gefühl von Schuld.
“Ich darf das nicht fühlen! Was bin ich bloss für eine schreckliche Tochter!?”
Und auf den Fersen davon, Schock.
Aber ich war nicht geschockt weil du gestorben warst. Ich war geschockt, weil ich so Angst hatte, dass dein Typ mich mit sich nach Hause nehmen würde, dass ich das Internat verlassen müsste. Vor lauter Angst und Schock fing ich an zu weinen. Und ich bettelte Monsieur le directeur an, bitte bleiben zu dürfen. Kurz darauf ging dein Typ—mit einem hasserfüllten Ausdruck in den Augen.
Und ich erinnere mich an den Gedanken: “Sie sind noch nicht verheiratet, sie sind noch nicht verheiratet… Er kann nicht einfach machen, was er will.“
Das war das letzte Mal, als ich über deinen Tod geweint hatte. Vor fast 30 Jahren, Mama.
In all dieser Zeit war mein Herz geschlossen und mein Kopf erinnerte mich immer wieder an die schlimmen Dinge, die vorgefallen waren…
Deine Unberechenbarkeit. Dein Alkoholproblem. Dein Schauspiel der Aussenwelt gegenüber, alles sei in Ordnung bei uns. Dein unablässiges Wiederholen, ich sei Schuld an deinem unglücklichen Leben. Deine Art, mein Aussehen zu verspotten, mich dick und hässlich zu finden. Deine Weigerung, mir genügend zu Essen zu geben. Deine erbarmungslose Routine, mich jeden Morgen auf die Waage zu stellen. Dein Um-dich-schmeissen von Esswaren. Dein Blossstellen aller meiner Fehler vor anderen Leuten. Dein Einschlafen mit glühenden Zigaretten. Dein Strafen dafür, dass ich dein Leben immer wieder rettete. Deine Drohungen, dir das Leben zu nehmen. Dein völliges Missachten meiner Gefühle. Deine jenseitigen Erwartungen an mich. Deine Unfähigkeit, mich mich sein zu lassen, geschweige denn ein Kind.
Bis zu deinem Tod plante ich ständig meinen eigenen Tod. Ich wusste, dass ich nicht weiterleben konnte so. Es war zu viel für mich. So viel zu viel.
Mit dir zu leben brachte mich langsam um.
Nach deinem Tod fühlte ich mich frei, endlich mein Leben leben zu können. Ich war fest entschlossen, nie wieder so abhängig von jemandem zu sein. Wie meine Lehrerin Brené Brown zu sagen pflegt, zog ich meine “Rüstung” an, um das Leben alleine zu meistern.
Das fühlte sich besser—sicherer—an, als irgendjemandem zu vertrauen.
Bis vor ein paar Jahren, war mir nicht klar, dass da irgendwo in mir so viele unverarbeitete Gefühle begraben liegen.
Alles was ich wollte, war nicht DICH zu werden!
Also fing ich nie mit Trinken an, hatte nie gewalttätige Beziehungen, hatte (haha) “Kontrolle“ darüber, wie die Dinge in meinem Leben liefen, und ich war mir nicht bewusst, dass mein praktisch inexistentes Selbstvertrauen, mein mieses Körperbild, meine Scham und mein Gefühl von Wertlosigkeit ein Problem sein könnten. Das alles war schlicht und einfach Normalität für mich. Ich war mir ja deine Stimme gewohnt. Ich war mir ja gewohnt, ständig auf Diäten gezwungen zu werden. Also machte ich das, was ich kannte: Ich schimpfte mit mir wegen jedem kleinen Fehler und ich versuchte um jeden Preis dünner zu werden. Ich tat das alles, weil ich dachte—immer noch dachte—, dass ich anders sein musste um geliebt zu sein.
Erst, als all das komplett die Toilette runter ging und meine säuberlich aufgebauten Wände anfingen, in sich zusammen zu brechen, wurde klar, dass ich in meinem Kern schon seit jeher auf Sand gebaut war.
Es war erst nach meinem Zusammenbruch, als ich endlich anfing zu fühlen und endlich anfangen konnte—gaaaaanz langsam—ein solides Fundament unter meinen Füssen zu erschaffen.
Da bin ich dran. Ich beginne, mich selber kennenzulernen. Ich fange an, mich in meiner Haut einzuleben, mich wohler zu fühlen. Das alles geht mir natürlich viel zu langsam, aber ich tue mein Bestes…—so, wie ich es immer tat, du weisst es ja.
Und heute—am Muttertag 2016—realisierte ich plötzlich wie fest ich dich vermisse.
Wie sehr ich dich, wirklich DICH, hätte kennenlernen wollen. Diejenige Person, die unter all den Problemen erdrückt wurde, die sich im Verlauf deines Lebens auf deine verwundete Seele gehäuft hatten.
Und als ich weinte, öffnete sich mein Herz. In einem Augenblick war plötzlich klar, wirklich klar, dass du mich—obwohl du es mir nie hast zeigen können—trotzdem geliebt hast.
Mama, wenn du irgendwo da draussen bist, wisse eines: Ich liebe dich auch.
Du hattest ein unvergesslich schönes Lachen.
Ich bin dankbar, deine Tochter zu sein.